Das Ereignis
Gegenseitiger Outfitcheck, ob sie zu sehr „nach Flittchen“ aussehen, auf Parties lieber unter sich bleiben statt auf die flirtenden Blicke der Jungs zu reagieren – das ist für junge Studentinnen in den 60er Jahren eine Überlebensstrategie. Nicht nur, weil es klare Vorgaben gibt, was sich für eine Frau „gehört“. Sondern auch, weil eine Schwangerschaft das Ende des Studiums bedeuten würde. Was geschah, wenn es doch zu einer Schwangerschaft, darüber wurde nicht gesprochen. Mit ihrem autobiographischen Roman „Das Ereignis“ wollte die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ebenjenes Schweigen brechen. Ihr Buch wurde nun unter dem gleichnamigen Titel verfilmt.
Darum geht es in „Das Ereignis“:
Anne ist die Erste in ihrer Familie, die an der Uni studiert. Sie ist begabt und klug, wird von ihrem Literaturprofessor dafür geschätzt. Anne liebt es aber auch, zu feiern und das Leben zu genießen. Im Frankreich der 60er Jahre hat sie unter manchen ihrer Mitstudierenden so den Ruf einer „Schlampe“ weg. Anne nimmt es gelassen – den Rückhalt ihrer Freundinnen hat sie schließlich. Doch als ihr Arzt feststellt, dass sie schwanger ist, zieht das Anne den Boden unter den Füßen weg. Ein Kind zu bekommen, würde das Ende ihrer Zukunftspläne bedeuten. Kein Studium mehr, stattdessen ein Leben als Hausfrau und Mutter eines unehelichen Kindes. Anne will dies auf keinen Fall. Doch Abtreibungen sind illegal und strafbar. Ärzte weisen Anne ab, ihre Freundinnen gehen auf Abstand. Anne muss feststellen, dass sie alleine dasteht. Auch ihr Studium leidet. Immer verzweifelter sucht Anne nach einem Ausweg, während die Zeit unerbittlich voranschreitet.
Warum dieser Film ein Highlight ist:
Auch wenn Annes Geschichte 1963 spielt, fühlt sie sich schmerzhaft aktuell an. Nicht nur, weil aktuelle Abtreibungsverbote in Ländern wie Polen und den USA zeigen, dass Frauen jederzeit wieder in diese Lage gebracht werden können. Regisseurin Audrey Diwan verzichtet auf einen betont historischen Look, der das Geschehen in weite Ferne rückt. Ihr Film wirkt zeitlos. Anne könnte – bis auf das fehlende Smartphone – genauso gut eine junge Frau heute sein. Anamaria Vartolomei spielt die so entschlossene wie verletzliche Anne auf intensive, berührende Weise. Stets bleibt die Kamera nah an ihr dran, wahrt aber immer ihre Würde. Wenn Anne in ihrer Verzweiflung mit einer Stricknadel selbst einen Abgang herbeizuführen versucht und später eine „Engelmacherin“ kontaktiert, wird nichts beschönigt und stets deutlich, was für eine schwere, schmerzhafte Entscheidung Anne für sich trifft. Der Prozess wird jedoch nie voyeuristisch ausgestellt. Ähnlich wie ihre Regiekollegin Celine Sciamma („Bande de Filles“, „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) begegnet Audrey Diwan Anne und ihren Freundinnen immer auf Augenhöhe, zeigt sie als – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – selbstbestimmte Individuen. Wenn der Film so glaubhaft wie berührend schildert, dass Anne keinen Vertrauten für ihr Problem findet, verzichtet er dabei wohltuend auf Klischees, sondern zeigt komplexe Menschen. Annes Eltern sind warmherzig und der Tochter sehr zugetan. Anne will sie einfach nur nicht enttäuschen. Auch der Kindsvater, eine flüchtige Bekanntschaft, ist kein Arschloch. Aber es ist einfach nachvollziehbar, dass Anne von ihm keine Hilfe erwarten kann.
Unser Fazit zu „Das Ereignis“:
Ein sehenswerter intensiver Film, der – obwohl sensibel erzählt – auf aufrüttelnde Weise vor Augen führt, in welche Situation Frauen gebracht werden, denen das Recht auf Selbstbestimmung genommen wird.
Kirsten Loose
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe