Rückenwind von vorn

Charlie ist eine junge Lehrerin in Berlin. Mit ihrem Freund Marco ist sie seit 5 Jahren zusammen, was im Umfeld Erwartungen wach werden lässt, dass die beiden demnächst eine Familie gründen. Tatsächlich wünscht sich Marco ein Kind. Aber Charlie will irgendwie noch nicht und nimmt heimlich weiter die Pille. Ihre beste Freundin geht auf Südostasienreise und hofft darauf, dass Charlie sie in Südkorea trifft. Charlie plant, träumt, aber so ganz kann sie sich dann doch nicht durchringen, solange Marco nicht mitwill. Ihren Kollegen Gerry bewundert sie für seine Spontaneität. Er plant mit dem Wohnmobil eine Reise durch den Balkan. Charlies Oma ist ebenfalls eine lebenslustige Frau, doch sie hadert plötzlich mit gesundheitlichen Problemen. Was kommt da auf Charlie als einzige Angehörige noch zu? Und so empfänglich sie für alles ist, was andere wollen: Was will eigentlich Charlie selbst?

Charlie ist eine ganz normale junge Frau, ohne existentielle Nöte, nur mit den Problemen ausgestattet, die man halt so hat, wenn man nach der unschuldigen Freiheit, die die Zeit der Jugend bietet, merkt, dass man langsam bestimmte Entscheidungen für sein Leben treffen sollte. Bin ich glücklich in meiner Beziehung? Will ich Kinder oder nicht? Sollte ich reisen und die Welt entdecken oder ist das nichts für mich? Man könnte an „Rückenwind von vorn“ auf den ersten Blick bemängeln, dass die Probleme, die seine Heldin hat, nichts Besonderes sind. Die Handlung ist teils Coming-of-Age-Film und teils romantische Komödie mit Wendungen, wie man sie auch aus dem Mainstreamkino kennt. Dabei folgt Philipp Eichholtz ( Liebe mich!) mit seinem dritten Spielfilm weiterhin den Grundsätzen des "Sehr guten Manifests" von Axel Ranisch. Sein Film ist unabhängig von Förderern und dem Einfluss von Sendern entstanden, spontan und ohne Drehbuch. Tatsächlich bekommt die schlichte und filmisch nicht sonderlich aufregend gestaltete Geschichte in den Feinheiten der Situationen und der Charakterisierung der Figuren ihren besonderen Reiz. Philipp Eichholtz zeigt Charlies und Marcos Widersprüchlichkeiten und beurteilt nicht, ob sie sich richtig oder falsch verhalten. Charlie kann als Lehrerin wunderbar mit Kindern – trotzdem ist es okay, dass sie keine eigenen Kinder will. Marco ist selbst noch ein halbes Kind und überfordert, wenn er babysitten soll – trotzdem ist es okay, dass er sich ein Kind wünscht. Seine besondere Stärke entwickelt „Rückenwind von vorn“ aber in der zweiten Hälfte, wenn Charlies Beziehung zu ihrer Oma mehr in den Vordergrund rückt und sich zwischen ihr und ihrem Kollegen Gerry etwas Wunderbares entspinnt, das sich nicht so leicht einordnen lässt. So ist die schlichte Geschichte voller naher, emotionaler, aufrichtiger Momente und erzählt auf sehr glaubwürdige Weise vom Erwachsenwerden.

Kirsten Loose