Niemals Selten Manchmal Immer

Prädikat besonders wertvoll
Länge:
101 Minuten
Altersempfehlung:
Ab 16 Jahren
FSK-Freigabe:
Ab 6 Jahren
Kinostart:
01.10.2020
Regie:
Eliza Hittman
Darsteller:
Sidney Flanigan (Autumn), Talia Ryder (Skylar), Théodore Pellerin (Jaspar), Ryan Eggold (Autumns Stiefvater), Sharon Van Etten (Autumns Mutter), Drew Seltzer (Supermarktmanager Rick) u. a.
Genre:
Drama , Jugend
Land:
USA, Großbritannien, 2020

Wie einsam muss sich eine 17-Jährige fühlen, die im erzkonservativen US-Bundesstaat Pennsylvania nach einem vorgetragenen Lied in der Schulaula von einem Mitschüler als Schlampe bezeichnet wird, wenn nicht einmal die Eltern davon Notiz nehmen? Der Stiefvater setzt Zuhause sogar noch einen drauf und würdigt die Befindlichkeiten der Tochter voll herab. Autumn muss daher ganz alleine eine wahrhaft schwierige Entscheidung treffen, nachdem ihre Periode schon länger ausgeblieben ist. Mit Männern hat sie sexuell nicht nur positive Erfahrungen gemacht, wie sie später in einem Gespräch mit einer Sozialarbeiterin andeutet. Zum Glück findet Autumn bei ihrer etwas älteren Cousine Skylar Verständnis – Beide arbeiten als Kassiererin in einem Supermarkt und sind dort ebenfalls sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Skylar begleitet Autumn heimlich nach New York, denn nur dort ist eine Abtreibung in ihrem Alter ohne Einverständniserklärung der Eltern möglich. Sie will das Kind auf keinen Fall behalten und es auch nicht zur Adoption freigeben, wie man es ihr in der Schwangerenberatung des örtlichen Gesundheitszentrums nahelegt. Man suggeriert ihr zudem, sie befinde sich erst in der 10. Schwangerschaftswoche. Im winterlich kalten New York kommt heraus, dass sie bereits in der 18. Woche ist und der Abbruch daher zwei Tage Zeit beanspruchen wird. Das sind auch zwei Nächte, die sich die beiden Mädchen mangels Geld und familiärer Unterstützung um die Ohren schlagen müssen.

Autumn ist nicht gerade gesprächig, sodass sich ihre Gefühlswelt vor allem in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegelt, den die Kamera in vielen Nah- und Großaufnahmen intensiv erfasst. Besonders beeindruckend: eine längere Szene vor dem Eingriff, in der ihr von einer echten Sozialarbeiterin Fragen zu ihrem Sexleben gestellt werden, die sie mit Niemals, Selten, Manchmal oder Immer beantworten soll. Auch ansonsten verlässt sich die Regisseurin Eliza Hittman nicht auf Worte, sondern auf die Kraft der Bilder und ihre beiden Hauptdarstellerinnen. Obwohl nicht allzu viel passiert, die durchwachten Nächte unendlich lang sind und Autumns Geschichte lediglich durch eine angedeutete „Liebesbeziehung“ von Skylar mit einem jungen Mann unterbrochen wird, den die Mädchen auf der Busfahrt nach New York kennengelernt hatten, kann man sich der intensiven Sogwirkung des Films kaum entziehen. Die Idee zu ihrem dritten Film kam Eliza Hittman, nachdem sie 2012 die Geschichte von Savita Halappanavar in Irland gelesen hatte, der nach einer unvollständigen Fehlgeburt eine Abtreibung verweigert wurde und die daraufhin an einer Blutvergiftung starb. Hittman recherchierte danach in den USA und fand heraus, dass dort jede fünfte Frau mehr als 50 Meilen fahren muss, um einen solchen Eingriff vornehmen zu lassen. Der konservativ geprägte Rechtsruck in der Ära Trump, der im Film immer latent mitschwingt, dürfte die ohnehin schwierige Situation dieser Frauen weiter zu ihrem Nachteil verkehren.

Holger Twele