Mein Bruder, der Superheld
Manchmal erscheint es im ersten Augenblick einfacher, zu lügen, als die Wahrheit zu sagen. Etwa, um andere nicht zu verletzen oder weil es Nachteile mit sich bringen kann. Der 14-jährige Jack, der aus Castelfranco Veneto (Norditalien) kommt, muss dies schon früh feststellen. Als Kind möchte er unbedingt einen kleinen Bruder haben. Und genauso kommt es auch. Klar also, dass er sich auf die Geburt von Gio total freut. Als seine Eltern ihm dann erzählen, dass Gio etwas ganz Besonderes ist, ist Jack von einer Sache fest überzeugt: Sein Bruder muss ein Superheld sein! So ist das schließlich immer in Comics. Dass Gio mit dem Down-Syndrom geboren wurde und ein Leben lang auf Hilfe angewiesen sein wird, erfährt Jack erst viel später. Das ist für Jack aber nie ein Problem – bis jetzt. Denn als Jack auf die weiterführende Schule wechselt und zum ersten Mal so richtig verliebt ist, in seine Mitschülerin Arianna, möchte Jack vor allem eines: gut ankommen. Dafür probiert er nicht nur Drogen aus, sondern entscheidet sich auch dafür, die Existenz seines behinderten Bruders zu verleugnen. Doch seinem selbstgesponnenen Lügennetz kann Jack bald nicht mehr entkommen...
Giacomo Mazzariol (1997 geboren) hat diese, humorvoll von Familie und Freundschaft erzählende Geschichte in seinem autobiografischen Bestseller-Roman beschrieben. Schon vorher sind er und sein Bruder Gio durch einen gemeinsam herausgebrachten Youtube-Kanal in ganz Italien berühmt geworden. Der 33-jährige Regisseur Stefano Cipani hat die Geschichte dann in seinem Spielfilmdebüt visuell ansprechend und emotional mitreißend verfilmt. Besonders gut gelungen ist dem Film, der gängige Erwartungshaltungen hinterfragt, der spielerische Umgang mit Vorurteilen und subjektiven Perspektiven. Mal sehen wir die Welt durch die Augen von Jack, dann wieder durch die von Gio. Durch diesen Vergleich wird besonders spürbar, wie die beiden Brüder die Welt sehen und wahrnehmen. 2020 gewann der Film den europaweit ausgeschriebenen Young Audience Award der Europäischen Filmakademie.
Holger Twele
