Der menschliche Faktor

Wer wirklich miteinander redet, hat es leichter. Probleme lassen sich besser aus der Welt schaffen, Missverständnisse kommen oft erst gar nicht auf. Kommunikation ist in vielen Situationen der Schlüssel zu einem gesunden Zusammenleben. Auch und gerade in der Familie. Wie fatal es sein kann, wenn alle nur noch ihr eigenes Süppchen kochen, zeigt Ronny Trocker („Die Einsiedler“) in seinem zweiten Spielfilm „Der menschliche Faktor“, einem anspruchsvoll erzählten, eine schaurige Stimmung erzeugenden Puzzle, das sein Publikum immer wieder zum Mitdenken auffordert.
Darum geht es in „Der menschliche Faktor“:
Geisterhaft bewegt sich die Kamera durch ein Ferienhaus, während auf der Tonspur unheimliche Klänge zu hören sind. Lauert eine Bedrohung im Inneren auf die ankommende Familie, die nur Augenblicke später die Tür öffnet? Diesen Eindruck vermittelt der Regisseur zumindest mit seinem ungemütlichen Einstieg, der direkt aus einem Horrorfilm stammen könnte. Für übernatürlichen Schrecken interessiert sich Ronny Trocker jedoch nicht, auch wenn er im weiteren Verlauf ab und an mit den Stilmitteln des Thriller- und Schauerkinos hantiert. „Der menschliche Faktor“ handelt vielmehr vom ganz realen Grauen eines familiären Zerfalls, den schon die dichten, grauen Wolken im belgischen Urlaubsort anzukündigen scheinen.
Eigentlich wollten Nina und Jan, die gemeinsam eine Werbeagentur leiten, mit ihren Kindern Emma und Max in ihr Feriendomizil fahren, um die Köpfe freizukriegen und familiäre Spannungen abzubauen. Kurz nach ihrer Ankunft dringen allerdings Unbekannte, so behauptet Nina, in das Haus ein und werden durch ihr Geschrei vertrieben. Für kurze Zeit lässt der mysteriöse Vorfall die Vier näher zusammenrücken. Schnell aber kochen durch das äußere Ereignis die inneren Konflikte wieder hoch.
Was „Der menschliche Faktor“ zu einem herausfordernden Puzzle macht:
Dass einiges an Ärger und Enttäuschung in der Luft liegt, spürt man bereits beim ersten Auftritt der Hauptfiguren. Teenagerin Emma findet ihren Vater nervig. Max hat nur Augen für sein Haustier, die Ratte Zorro. Und Nina begegnet ihrem Ehemann seltsam distanziert. Warum? Das legen Rückblenden offen: Jan hat ohne Kenntnis seiner Frau und Geschäftspartnerin einen heiklen Auftrag für eine rechtspopulistische Partei an Land gezogen, der nun nur noch eingetütet werden muss. Könnte dieses Angebot vielleicht der Grund für den ungebetenen Besuch gewesen sein? Will irgendjemand das Paar einschüchtern? Fragen wirft Ronny Trockers zweiter Spielfilm viele auf, weil er ständig in der Zeit vor- und zurückspringt, ohne dies zu markieren. Wo eine Szene chronologisch einzuordnen ist, müssen wir uns selbst erschließen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Einbruch, den wir – ein Clou des Drehbuchs – aus den Perspektiven aller Familienmitglieder zu sehen, besser gesagt zu hören bekommen. Denn wirklich beobachtet, das kristallisiert sich langsam heraus, hat keiner der Vier die vermeintlichen Eindringlinge.
„Der menschliche Faktor“ will zeigen, dass Wahrnehmung subjektiv geprägt ist, hätte hier aber ruhig noch etwas mehr in die Tiefe gehen können. Am stärksten ist das rätselhafte Drama immer dann, wenn es beschreibt, wie alle Protagonist*innen ihr eigenes Ding durchziehen. Selbst in den Momenten, in denen Informationen ausgetauscht werden, sprechen sie oft aneinander vorbei. Am Ende mag mancher Streitpunkt etwas zu unscharf bleiben. Die guten Hauptdarsteller*innen tragen aber entscheidend dazu bei, dass man dem familiären Ringen mit Interesse folgt.
Christopher Diekhaus
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe