Der Kuaför aus der Keupstraße

Länge:
92 Minuten
Altersempfehlung:
Ab 12 Jahren
FSK-Freigabe:
Ab 0 Jahren
Regie:
Andreas Maus
Darsteller:
Taner Sahintürk (Özcan Yildirim), Atilla Öner (Hasan Yildirim), Sesede Terziyan (Ehefrau von Özkan), Aylin Esener (Ehefrau von Hasan)
Genre:
Dokumentation , Politischer Film
Land:
Deutschland, 2015

Im Juni 2004 explodiert am Nachmittag in der belebten Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. Die Straße ist das Zentrum der türkischen Community und wird von zahlreichen Geschäften und Läden gesäumt. Ziel des Anschlags ist der gut besuchte Frisörladen vom Kuaför Özcan Yildirim. Mit unglaublicher Wucht werden 700 zehn Zentimeter lange Tischlernägel zu tödlichen Projektilen. 22 Menschen werden verletzt, vier von ihnen schwer, einer schwebt in Lebensgefahr. Es ist ein Wunder, dass an den Folgen niemand stirbt. Doch schon direkt nach der Tat werden die Betroffenen des Anschlags wie Täter behandelt. In einer beispiellosen Vorverurteilung werden Beziehungen ins kriminelle Milieu unterstellt. Als Beweis hierfür gilt allein die Tatsache, dass kräftig gebaute Männer zu den Stammkunden des Frisörs zählen. Vermutungen der Opfer über einen rassistisch motivierten Hintergrund werden von den Ermittlern und Politikern vom Tisch gefegt. Özcan und seine Familie, sein Bruder Hasan, der im Frisörladen arbeitet, deren Ehefrauen, Freunde wie Abdulla Özkan und Atilla Özer, die beide schwer verletzt wurden, werden in den folgenden Jahren immer wieder verhört. Die Polizei und Ermittlungsbehörden unterstellen Verbindungen ins Rotlichtmilieu und die „Türsteher-Szene“, Bestechungszahlungen an die türkische Mafia, Versicherungsbetrug und ähnliches. Die Opfer des Anschlags werden sogar beschattet. Erst nach Jahren werden die Ermittlungen eingestellt, bis im Jahr 2011 der NSU Skandal die Republik erschüttert. Auf das Konto der Zelle des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ geht nicht nur die Mordserie von 2000 bis 2007, sondern auch der Bombenanschlag in der Keupstraße.

Regisseur Andreas Maus gibt den Opfern eine Stimme. Er lässt allein sie vor der Kamera sprechen und findet dafür eine strenge und stilisierte Form. Grundlage sind die Verhörprotokolle der Polizei, Schauspieler sprechen die Verhöre nach. Als Raum dient eine Lagerhalle, in welcher die Berufe der Betroffenen Geschäftsleute – Frisörutensilien, Gitarrenbauer, Bäcker – nachgezeichnet werden. Daneben kommen die realen Personen zu Wort. Durch die formal strenge und klare Filmsprache wird ein sachlicher Rahmen für die extrem emotionale Geschichte geschaffen. Denn es geht im Wesentlichen um die psychischen Versehrungen und menschlichen Folgen der rassistisch geprägten Vorverurteilungen. Das Misstrauen wird nicht nur von den Medien und der Öffentlichkeit geteilt, sondern irgendwann auch von Kunden, Freunden, sogar Verwandten. Wie es die türkische Inhaberin eines Blumenladens präzise auf den Punkt bringt: Es sind zwei Bomben eingeschlagen, erst die Nagelbombe und dann die eigentlich schlimmere: Das Versagen des Rechtsstaates, das im Fazit die Macht des strukturellen Rassismus offenbart. Erst 10 Jahre später wird der Fall durch den NSU Skandal wieder aufgerollt, die NSU bekennt sich zu dem Mordanschlag. Mit Medien wirksamer Geste lassen sich Politiker wie Bundespräsident Gauck und Angela Merkel bei den damaligen Opfern blicken, reichen die Hand zur Versöhnung.


Die Stärke des Dokumentarfilms liegt in seiner klaren und geradlinigen Erzählweise, zeigt die unterschiedlichen Sichtweisen der Opfer auf die Versöhnungsgesten, Streitereien darüber und liefert einen tiefen Einblick, der bislang weitreichend in den Medien oder der Öffentlichkeit ausgespart wurde. Am Ende fragt sich der Zuschauer beklommen wie es sein kann, dass dieser eigentlich unfassbare Skandal und das offensichtliche Versagen des Rechtsstaates heute in der Medienlandschaft kaum noch eine Rolle spielt, zumal der NSU Prozess immer noch nicht abgeschlossen ist. Der eindringliche Dokumentarfilm schließt nur eine der zahlreichen Lücken in der immer noch nicht stattgefundenen Aufarbeitung. Vergleiche mit der Verfolgung linksterroristischer Gruppen legen nah, dass der Begriff Gerechtigkeit im deutschen Rechtsstaat überaus dehnbar ist. 

Christiane Radeke

Weitere Angaben

Filmtyp: Farbe

Sprachen: Türkisch DD 5.1

Untertitel: Deutsch/Türkisch

Anbieter

Kauf-DVDRealFiction Filmverleih

Anbieterangaben beruhen auf Informationen zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (37. Woche 2016).