Berlin Alexanderplatz

Prädikat besonders wertvoll
Länge:
183 Minuten
Altersempfehlung:
Ab 14 Jahren
FSK-Freigabe:
Ab 12 Jahren
Kinostart:
16.07.2020
Regie:
Burhan Qurbani
Darsteller:
Welket Bungué (Francis), Jella Haase (Mieze), Albrecht Schuch (Reinhold), Joachim Król (Pums), Annabelle Mandeng (Eva), Nils Verkooijen (Berta), Richard Fouofié Djimeli (Ottu), Faris Saleh (Masud) u. a.
Genre:
Drama , Literaturverfilmung
Land:
Deutschland, Niederlande, 2020

Mit seiner Neuverfilmung von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ sorgt der junge Regisseur Burhan Qurbani spätestens seit der Berlinale für Aufsehen. Ein mutiges und weitgehend geglücktes Unterfangen ist seine zeitgemäße Interpretation, die allein schon mit ihrer Besetzung der Hauptfigur ein Ausrufungszeichen setzt. Denn aus dem Berliner Franz Biberkopf ist Francis geworden, ein Afrikaner aus Bisseau, der über das Mittelmeer gekommen ist und nur knapp die Havarie seines Flüchtlingsbootes überlebt hat. Der Trick dabei: Burhan Qurbani muss sich hier weniger an der stark veränderten Vorlage von Döblin messen lassen, der er trotzdem dem Geiste nach treu bleibt. Nur ist da ja auch noch das 15-Stunden-Mammutwerk vom legendären Regisseur Rainer Werner Fassbinder, das einen langen Schatten wirft – selbst 40 Jahre nach seinem Entstehen. Wie also kann Qurbani mit seinem Werk bestehen? Indem er sich bewusst ist, dass Berlin und unsere Gesellschaft sich verändert haben. Qurbani erzählt von dem, was sich vor seiner Haustür abspielt im Berliner Stadtteil Neukölln in der Nähe des Parks Hasenheide, einem Umschlagplatz für Drogen. Ihm zufolge sind die Underdogs aus Döblins Berlin der 1920er-Jahre die heutigen Flüchtlinge und Asylsuchenden ohne Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsberechtigung. Sie geraten schnell auf die schiefe Bahn, wenn sie an den Falschen geraten. So wie Francis. Kaum in Berlin angekommen, wird er mit aller Raffinesse von dem Drogendealer Reinhold angeworben, einem sexsüchtigen, psychisch schwer gestörten Typen, der in seinem ganzen Leben noch nie so etwas wie Liebe erfahren hat.

Der Reiz des Films liegt darin, dass er nicht mehr im Arbeitermilieu spielt, sondern zeigt, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge und Migranten hierzulande leben müssen und wie sie mühsam versuchen, Fuß zu fassen. Von großen Teilen der Filmkritik bereits als Meisterwerk gefeiert, gibt es dennoch kleine Schönheitsfehler. Welket Bujngué in der Rolle von Francis, der stets das Gute will und immer mehr in die Kriminalität abdriftet, gibt sein Bestes, wobei er selbst als Einarmiger noch wie ein wütender starker junger Mann wirkt und nicht wie ein schwer geschundener Mensch. Und Reinhold wird von Albrecht Schuch so abgrundtief dämonisch dargestellt, dass man sich manchmal nur wundern kann, wie Francis seinen Verführungskünsten immer wieder aufs Neue erliegt. Eine manchmal aufdringliche Musik, viele schnelle Schnitte und eine äußerst bewegliche Kamera lassen den Film zwar sehr modern erscheinen, geben den Figuren aber über das Plakative hinaus nicht immer genügend Tiefe. Dennoch lohnt sich der Kinobesuch des für die große Leinwand konzipierten Films, der gemessen an Fassbinders Version schon fast kleinformatig daherkommt: „nur“ drei Stunden! Hätte man sich mehr Zeit nehmen müssen? Anders gefragt: Birgt das schnellere Erzähltempo die Gefahr, gängige Vorurteile und Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Migranten zu reproduzieren (Drogenszene + People of Color = Klischee)? Wer die entsprechende Brille auf hat, mag das so sehen. Schlussendlich geht es aber um Francis und sein verzweifeltes Bemühen um ein aufrechtes Leben und aufrichtiges Lieben.


Holger Twele & Christian Exner